Einen Zahnstocher zu breit

Ein Projekt über den Maßstab der österreichischen Modeindustrie

„Manche ernähren sich zur Fashionweek Season nur von Salz, Wasser und etwas Öl“, erklärt Model, Schauspielerin und Aussteigerin Jazz Egger.

Was nach Mailand, Paris und New York klingt, wird in Österreich genauso gelebt. Die Maße, welche die zehn prominentesten Agenturen hierzulande von ihren Models erwarten, sind fernab der österreichischen Normalwerte und der Spielraum ist klein: drei Millimeter und damit gerade einmal die Breite eines Zahnstochers. Nur so viel weichen Models im Durchschnitt vom „idealen“ Hüftumfang von 90 cm ab. Das zeigt die Analyse von fast 1700 österreichischen Models.

von Franziska Hinterberger, Christina Huber und Lena Leibetseder

Fehlende Repräsentation

98-82-105. Das sind die Maße einer durchschnittlichen Österreicherin. In den konventionellen Kategorien von Model-Agenturen sucht man diese Werte vergeblich.

4 Models von 1.622 in unserer Auswertung weichen weiter vom 90-60-90 Ideal ab als 20%. Das wäre zum Beispiel ein Model mit den Maßen 96-83-104 – und damit eines, das dem österreichischen Durchschnitt entspricht.

Der Durchschnittswert der Maße der Models beträgt 84 cm an der Brust, 62 cm an der Taille und 90 cm an der Hüfte. Diese Maße sind von der Realität der meisten österreichischen Frauen weit entfernt. In den letzten Jahren gab es immer wieder Versuche, die Mode- und Werbeindustrie zu diversifizieren und unterschiedliche Körper und Hautfarben abzubilden. Das ist nicht genug, findet Modefotografin Sophie Salfinger, und wünscht sich eine Repräsentation aller Frauenkörper, besonders auch jenen einer Durchschnittsfrau. „Ich glaube, es passieren in der letzten Zeit schon positive Schritte in Richtung mehr Diversität und Inklusivität, aber da gilt es noch einen weiten Weg zu gehen. Was mir fehlt – und ich will nicht das Wort normal verwenden – ist dieses Mittelmaß.“

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Sophie Salfinger – hier im Selbstportrait – ist Modefotografin. Sie erlebt das Festhalten an den Leitlinien der Industrie bei nahezu jedem Shooting.

In unserer Erhebung kamen die Models der Agentur Addicted to Models besonders nahe an den errechneten Durchschnittswert von 84-62-90 heran. Jedes der 36 Models, deren Sedcard online ist, hat weniger als 90 cm Brustumfang. Außerdem hat jedes dritte Model einen Hüftumfang von 90 cm, mehr als in jeder anderen Agentur. Laut Managing Director Kevin Ziehenberger kann das daran liegen, dass bei Addicted to Models viel Wert auf High Fashion gelegt wird. Außerdem sind die vermeintlichen Idealmaße 90-60-90 veraltet. “Meiner Meinung nach hat es 90-60-90 eigentlich nie wirklich gegeben. 90 [cm] Brustumfang ist einfach zu viel, finde ich. Ich würde aber sagen, Hüfte ist bei Frauen das wichtigste Maß. Und für Couture ist eigentlich 90 Hüfte auch fast zu viel, da geht man eher Richtung 88. Unsere Models gehen eher in die Richtung 84-62-90. Bis auf die 62, die sind vielleicht nicht optimal. Unsere dünneren Models sind teilweise noch dünner.“ Die Models seiner zwar sehr dünn, aber trotzdem gesund. „Wir können auch persönlich nichts dafür, die [Models] sind einfach natürlich so dünn. Die essen wahnsinnig viel, teilweise gleich viel wie ich. Und ich würde sagen, ich esse schon sehr viel.”

Der Preis der Industrie

Wer gebucht werden will, muss gewisse (körperliche) Anforderungen erfüllen. Wer sich dem widersetzt, muss mit erheblich weniger Erfolg rechnen.

Der Druck, der auf Models lastet, und die Erwartungen, eigentlich unrealistischen Maßen und Körperbildern zu entsprechen, sind enorm. Natürlich schlank gebaute Frauen sind oftmals nicht schlank genug für Agenturen, Kunden und Modemacher. Für viele Frauen bedeutet dies extreme psychische Belastungen, die oft in Essstörungen, Depressionen oder einer Drogensucht enden. Model Jazz Egger, die unter anderem wegen solcher Gegebenheiten hart mit der Modeindustrie gebrochen hat, erzählt, wie sich die Branche auf ihr Selbstbild und ihre Psyche ausgewirkt hat: „Ständig zu hören, man müsse noch mehr abnehmen, wenn man schon seit 6 Monaten nur Joghurt mit Früchten isst, bringt einen zur Verzweiflung. Viele Models hören da ganz auf zu essen und greifen zu Drogen und anderen Mitteln. Manche ernähren sich zur Fashionweek-Season nur von Salz, Wasser und etwas Öl.“

Verschobene Wahrnehmung. So viel weichen Models in den österreichischen Agenturen vom 90-60-90 Ideal ab.
Nichts davon widerspiegelt die Werte einer durchschnittlichen Frau.
Normalgewichtige Frauen finden sich nur in den Kategorien „Curvy“ oder „Plus Size“.

„Solche Labels sind generell toxisch.“

Jazz Egger über Bezeichnungen wie „Curvy“ oder „Plus Size“

Aber woher kommen diese unrealistischen Körperbilder, denen die Frauen entsprechen müssen? Sophie Salfinger sieht den Ursprung des Problems daran, dass die Schnitte und Designs aus Einfachheit auf einen bestimmten Körpertypen zugeschnitten werden. „Die Mode wird auf ein schlankes, großes Model geschnitten, weil es einfach leichter ist. Nicht, weil es ihnen besser steht, sondern weil ich mich dann nicht mehr darum kümmern muss, ob das Kleid perfekt sitzt, oder ob es nur bestimmte Posen gibt, die die Kleidung am besten präsentieren. Bei jemandem mit einer großen, schlanken Statur ist das einfach leichter.“

„Addicted to Models“-Chef Ziehenberger stimmt Sophie in diesem Punkt zu. Auf die Frage, wer Schuld an den niedrigen Maßen hat, meint er: “Jeder hat ein bisschen eine Mitschuld an dem Ganzen, aber die Maße gehen natürlich von den Kunden aus. Die Designer schneiden das Gewand auf eine gewisse Größe, und die Größe müssen die Models erfüllen.”

Die magischen 90 cm

90-60-90. Das gilt also großteils auch heute noch für Models. Unsere Erhebung hat gezeigt, dass besonders der Hüftumfang dabei indiskutabel ist, unabhängig von den biologischen Gegebenheiten.

Von 1.622 Models liegt nur knapp ein Drittel über dem perfekten Wert von 90 cm. Die Österreichischen Modelagenturen spiegeln dieses Verhältnis fast alle wider. Dass selbst dieser Wert für viele rein aufgrund der Hüftknochen nicht möglich ist, scheint nebensächlich, erklärt die Kärntnerin Jazz Egger: „Mir wurde öfter gesagt, ich müsste an meiner Hüfte abnehmen. Die Ironie dabei war, dass es nichts abzunehmen gab sondern es einfach meine bone structure war.“

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Egger geht hart mit der Modeindustrie ins Gericht – und feiert aktuell dennoch Erfolge, unter anderem in Hollywood

Brüste optional

Weibliche Rundungen? Fehl am Platz. Kindliches Aussehen wird bevorzugt.

6 cm unter dem „Idealwert“ liegt der durchschnittliche Brustumfang heimischer Models. Das sind 84 cm. Zum Vergleich: Eine durchschnittliche Österreicherin misst mit 82 cm fast denselben Wert an der Taille.

Eine schmale Hüfte lässt kaum Brust zu –
genauso wenig, wie Designerkleider das tun.
Von 1.622 Models haben nur 71 einen größeren Brustumfang als 90 cm – das ist eines von 25 Models.

„Mir wurde gesagt, es wäre zu viel Aufwand, die Kleidung an ’normale‘ Körper anzugleichen.“

Jazz Egger erklärt, woher die Einheitsgröße in der Branche kommt

Um die Mitte herum „breiter“

Die Taille darf einen größeren Umfang haben. Im Schnitt sind es ganze 3 cm mehr als es das Ideal vorgibt.

Die Taille lässt am ehesten Spielraum nach oben offen.
Knapp zwei Drittel der Models weisen hier einen größeren Umfang als 60 cm auf.
Damit messen sie um die Körpermitte immer noch weniger als ein Fußball –
der muss mindestens 68,5 cm Umfang haben. Die durchschnittliche Österreicherin misst an dieser Stelle 82 cm.

Social Responsibility

Problematisch an der Abbildung solcher Frauenkörper ist laut Jazz Egger auch, dass dadurch Unsicherheiten bei Mädchen und jungen Frauen entstehen, von denen dann wieder die Modeindustrie profitiert. Sie erklärt, dass die Branche nach wie vor männerdominiert sei und es deutlich einfacher ist, erfolgreich zu sein, wenn man sich als Model auf die „Spielchen“ einlässt – und dazu gehört nicht nur das Hungern für die perfekten Maße, sondern auch das Ausgehen mit Designern, Fotografen oder Casting-Direktoren.

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Jazz Egger gibt auf Instagram Einblicke in die harte Realität der Modeindustrie.

„Ich sehe da sehr stark die Verantwortung bei Firmen. Die formen das Bild und die sitzen da oben und bestimmen, wie Kampagnen aussehen sollen. Von jenen braucht es die Bereitschaft, jeden Körpertyp einzubauen.“

Fotografin Salfinger appelliert an UnternehmerInnen, künftig Konzepte zu entwerfen, die auf Diversität und Widerspiegelung der tatsächlichen Kundschaft beruhen

Kevin Ziehenberger sieht in der Body Positivity Bewegung ebenfalls etwas Gutes: „Schirch gesagt, unsere Kunden fragen teilweise Mädchen an, die mindestens 1,78 sein sollen, maximal 88 bei der Hüfte [messen sollen] und am besten noch Schuhgröße 37. Rein anatomisch ist das nicht möglich. Meiner Meinung nach sollte das jedem klar sein. Es ist wirklich nur eine kleine Gruppe an Leuten, die das erfüllt.”

“Im Prinzip ist man als Model nur ein Zulieferer für die Modebranche. Man sollte sich auch als das sehen und das Ganze nicht zu ernst nehmen.”

Kevin Ziehenberger, Managing Director von der Agentur „Addicted to Models“, im Interview

Neue Spielregeln

Jazz würde sich für die Zukunft Gesetze wünschen, die gewisse Standards und Gegebenheiten verbieten. Solche seien bis heute nicht vorhanden. Sophie findet, dass es Mode braucht, die auch tatsächlich für durchschnittliche Frauenkörper gemacht wird.

„… und tausend andere Sachen.“

Jazz Egger auf die Frage, was sie gerne an der Modebranche ändern würde

Insgesamt wurden im Zuge der Recherche zehn Agenturen ausgewertet. Dabei wurden die Maße von 1.668 Models herangezogen, deren Sedcards online verfügbar waren. Bei 46 Models lagen fehlerhafte oder unvollständige Werte vor. Die oben genannten Zahlen beziehen sich somit auf 1.622 Models, die in der Endauswertung inkludiert waren.

Die Rohdaten sind hier offengelegt: https://docs.google.com/spreadsheets/d/1oruZw0diruY6rMNKLobp1ISgR5nF2UeQUQ_ZoZHgq7g/edit?usp=sharing